Bist du auch ein Multipotentialite?

Die letzten Wochen waren vor allem eins: viel.
Viel nachdenken, um alte Denkmuster abzulegen. Viel annehmen, um neue Wege einzuschlagen. Viel erleben, viel Austausch, viel Konsequenz und viel Veränderung. Dieser Prozess lässt sich nicht auf ein einschneidendes Erlebnis zurückführen, sondern ist in neuen Bekanntschaften, Herzklopfen und neuen aber auch wieder gefundenen Interessen verwurzelt.

Viel ist ja nicht unbedingt schlecht, aber zwang mich kürzlich doch in die Knie und ließ mich dann am Küchentisch, mit einem halb vollen Glas Wein und einem großen Fragezeichen zurück. Manchmal ist es ein Song, der mich berührt, oder der Gedanke an etwas Erlebtes und dann steht sie plötzlich mit weit ausgebreiteten Armen vor mir: Die Gedanken-Spirale. „Bitte aufspringen, rationales Gedankengut ausschalten und in rasendem Tempo hinabziehen lassen“. So auch an diesem Abend. Vor meinem geistigen Auge spielten sich meine letzten sechs Jahre ab.
7 Umzüge in 7 Jahren , der Wechsel meines Studiums und diverser Jobs, zerbrochene Beziehungen und Neuausrichtungen.
Hobbys entdeckt, eingetaucht und dann wieder verworfen.
Es fühlte sich wie ein Buch an, das nach dem letzten Kapitel nicht mit einem neuen beginnt, sondern immer wieder von Seite eins startet. Ein Gefühl der Rastlosigkeit machte sich in mir breit und damit auch viele Fragen: Wieso finde ich nicht diese eine Sache, die mir Spaß macht und die mich ausfüllt? Warum verliere ich so schnell das Interesse an Dingen und fühle mich selten verpflichtet, etwas zu Ende zu bringen. Macht mich das unzuverlässig?
Bin ich inkonsequent? Der Fragenkatalog war lang.
Und unangenehm, weil ich mich mit einem Mal so deplatziert fühlte.

Und genau hier liegt der Fehler.

Ohne es zu wissen, versuchen wir beinahe täglich in vorgefertigte Formen zu passen und richten unsere Unsicherheit oft gegen uns selbst und nicht „die Gussform“.
In Zeiten von plakativer „self love“ und dem Wissen (fast) alles erreichen zu können, wenn man sich nur schnell genug im Hamsterrad dreht, ist gesellschaftlicher Druck kein Gefühl, das man nur mal kurz verspürt, sondern kann ein ständiger Begleiter der täglichen Handlungen sein.
Öffnet man Instagram drängen sich die erhobenen Zeigefinder der Achtsamkeit auf, und erinnern einen daran, für sich selbst einzustehen. Keine Zeit gehabt oder schlicht vergessen?
Dann bitte schnell in den Pyjama schlüpfen, Gesichtsmaske drauf, Nägel lackieren und gut die Ohren aufsperren; horchen, ob ich mir nicht selbst etwas Wichtiges zu sagen habe. Dass ich mich also zuerst frage, ob mit mir etwas nicht stimmt und nicht direkt darauf komme, dass auch die äußeren Umstände schlichtweg falsch sein könnten
(ganz davon abgesehen, dass es dafür keine Feuchtigkeitsmasken braucht), ist leider die logische Konsequenz.


Aber keine Angst. Es fehlen nur ein paar gedankliche Stellschrauben.

Natürlich ist es wichtig und für ein ausgeglichenes Wesen unabdingbar, gewisse Eckpunkte zu echten Standbeinen zu erklären. Im Grunde die Säulen der Persönlichkeit. Sich darauf berufen zu können ist eine Art doppelter Boden und fängt so manchen Sturzflug beherzt auf. Aber was ist, wenn Vorgelebtes, Beigebrachtes und die anerzogenen Konventionen auf einmal nicht mehr so richtig passen wollen. Noch nie so richtig gepasst haben. Und nun ganz entscheidend: Gar nicht passen müssen. Dann ist es nicht an der Zeit, alles über den Haufen zu werfen, sich Vorwürfe zu machen und der Rastlosigkeit mit Ratlosigkeit nachzugeben.

Dann folgt die Erkenntnis: Viel ist mehr und mehr führt zu viel mehr. Dass dabei immer wieder Bausteine nicht passen ist normal, gut und so gar kein Manko. Es ist eine Stärke, die erkannt werden will, gehört werden muss und ausgebaut werden sollte.

// Der Multipotentialite

Ist ein echtes Multitalent und der Gegen- und Mitspieler des Spezialisten. Vor einigen Wochen entdeckte ich rein zufällig den TED Talk von Emilie Wapnick und hatte einen dieser seltenen Momente, der die Augen öffnet und sich lang verschlossene Türen auftun. Zwölf Minuten, die für mich so viel verändert und vor allem erklärt haben. Die mir wieder einmal gezeigt haben, dass ich völlig okay bin, wie ich bin und das ich mich nicht verstecken muss.
Eine Ansprache an einen essentiellen Wesenszug, der von mir viel zu lange als Schwäche eingeordnet wurde.

Zur Erklärung: Mir fiel es schon immer schwer, an nur einem Hobby, oder einer Neigung gleichzeitig festzuhalten, denn nach einer gewissen Zeit verliere ich das Interesse.
Habe ich das Gefühl, ein Thema für mich ausreichend verstanden oder eine Sportart oft genug praktiziert zu haben, dann wendet sich meine Aufmerksamkeit einer neuen Aufgabe zu und ich tauche mit allem, was ich habe in die mir unbekannte Materie ein – bis sich der Kreislauf wiederholt.

Außenstehende tun das oft mit der Erklärung ab, dass man nicht ausreichend fokussiert ist oder schnell aufgibt – und darin liegt das Missverständnis begründet. Ist das Maximum der Wissbegier aus einem Interessenfeld erreicht, widme ich mich wieder Neuem zu und entwickle mich so stetig weiter.
Was hier so abgeklärt beschrieben ist, sind oft auch Leidenschaften, von denen man sich verabschieden muss.
Keine einfache Aufgabe, denn damit geht meist eine Entwurzelung der leibgewonnen Sache einher, um Platz für das Neue zu schaffen.
Emilie Wapnick erklärt in ihrer Rede, dass genau hier die Stärke des Multipotentialite liegt: Sie/Er nutzt die Erfahrungen aus vorangegangenen Neigungen, bringt diese in neue Interessenbereiche ein und entwickelt so sich und sein Umfeld weiter. Denn Fortschritt entsteht nur durch Schnittstellen aus bereits gesammeltem Wissen und neuen Erfahrungen (eine ihrer bemerkenswertesten Thesen übrigens, die ich genauso unterschreiben würde). So steht ein Multipotentialite immer wieder als Anfänger vor dem Unbekannten und schreckt daher nicht vor neuen Aufgaben zurück. Im Gegenteil: Neue Aufgaben bedeuten für ihn schlichtweg Neues zu lernen.

Ob Ihr nun Spezialist oder wie ich Multipotentialite seid, ist eigentlich völlig egal und bedarf keiner Rechtfertigung, sondern manchmal nur der Erklärung. Rechtfertigung bedeutet, sich entgegensetzten zu müssen, auf Bewilligung angewiesen zu sein.
Es versetzt den Menschen meist automatisch in eine geduckte „Kampfposition“, bereit für die Schlacht der Argumente. Bereit sich verteidigen zu müssen. Aber wofür? Für Stärke, Können und Potential? Das sollte niemals einer Rechtfertigung bedürfen, sondern bei den Mitmenschen für Aufmerksamkeit, Anerkennung und Unterstützung sorgen.
Versteckt euch also nicht vor eurem Wesen, sondern gestaltet das Umfeld bewusst so, dass ihr euch darin frei entfalten könnt.

// You do You.

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